Die Bleifrei-Umstellung muss als Chance begriffen werden

Interview mit Thomas Klein von MSC/Gleichmann und Hubertus Andreae von dreiplus

Thomas Klein, Geschäftsführer und Projektleiter „Bleifrei” der MSC/Gleichmann sowie Hubertus Andreae sprachen mit Markt&Technik über die Herausforderung des bevorstehenden Umstellungsprozesses.

Markt&Technik: Warum widmet sich MSC in seiner Rolle als Distributor so vehement der Bleifrei-Thematik?

Thomas Klein (MSC):
MSC hat als einer der führenden deutschen Distributoren schon seit geraumer Zeit Erfahrung mit der Bleifreiumstellung sammeln können. Uns wurde sehr schnell klar, dass die Umstellung bzw. Anpassung nicht einfach und vor allem sehr zeitaufwendig wird.

Fehlt die notwendige Sensibilität für dieses Thema, droht ein momentan nicht abschätzbares Risiko für viele zentraleuropäische Unternehmen und für viele unserer Kunden. Daher ist uns daran gelegen, größtmögliche Unterstützung zu leisten.

Wir haben uns sogar dazu entschieden, mit Hubertus Andreae, der jahrelang große Materialwirtschaftsbereiche leitete, externe Unterstützung ins Haus zu holen, um dieses Projekt ohne Unternehmensbindung und damit ohne Betriebsblindheit anzugehen.


Herr Andreae, worin sehen Sie die größten Schwierigkeiten bei der Bleifreiumstellung?

Hubertus Andreae (dreiplus):
Zurzeit beschäftigen sich die Experten in den Unternehmen in erster Linie mit den Fertigungsprozessen. Ich bin überzeugt, dass unsere Prozessspezialisten hierbei gute Ergebnisse erzielen werden. Aber ich sehe mit Sorge, dass sich um die Themen der Materialwirtschaft und der restlichen Prozesse viel zu wenig gekümmert wird. Kaum ein Unternehmen besitzt ein übergreifendes Projektmanagement, einen Projektplan oder Prozessanalysen.


Welchen Einfluss hat denn die Bleifreiumstellung auf die Materialwirtschaft eines Unternehmens?

Andreae:
Einen ganz enormen, denn rund 80 Prozent der direkten und indirekten Kosten entfallen auf die Materialwirtschaft, damit ist sie der verwundbarste Punkt in einem Unternehmen, und genau hier setzt die Bleifreiumstellung ein. Eine umfangreiche Umstellung von 70 Prozent des Materials mit einer anschließenden Nichtverwertbarkeit stellt ein enormes finanzielles und damit existenzielles Risiko für die Unternehmen dar. Erschwerend kommt hinzu, dass die Hersteller gleitend umstellen, die Kunden können die Übergangsbedarfsvolumina noch nicht beziffern, Lieferzeiten nehmen zu, und die Materialwirtschaftsbereiche wissen nicht, wie sie bestellen können, ohne ein Verschrottungspotenzial zu erzeugen. Dabei ist noch nicht einmal mit eingerechnet, dass sich die meisten Unternehmen bereits jetzt mit Altlasten in ihren Lagerbeständen rumärgern, die ebenfalls von Verschrottung betroffen sein werden.

Die Minimierung des Verschrottungspotenzials ist somit nur im Rahmen eines straffen Projektmanagements möglich, verbunden mit einer umfassenden Prozessanalyse sowie einer lückenlosen Aufdeckung der Ursachen für Restbestände. Die verbleibende Zeit ist hierfür äußerst knapp!


Ihr Slogan ist „Noch 20 Monate bis zum Verkaufsverbot”. Wie sehen die Folgen für die Unternehmen aus, die sich nicht rechtzeitig mit dieser Thematik befassen?

Andreae:
Die Folgen sind finanzielle Belastungen in einer kaum überschaubaren Größenordnung. Eine Verschrottung von 10 bis 30 Prozent der Lagerbestände ist für die meisten Unternehmen nicht zu verkraften. Eine Feinabstimmung mit jedem einzelnen Kunden ist dringend erforderlich. Alle Unternehmen, die nicht nachhaltig einen stabilen Umstellungsprozess nachweisen können, haben meiner Meinung nach mit unnötigem Geschäftsverlust zu rechnen. Risiken bestehen in der gesamten Lieferkette.


Das Verschrottungsrisiko der Lagerbestände beziffern Sie auf 10 bis 30 Prozent. Wie weit werden die Endprodukte davon in Mitleidenschaft gezogen?

Andreae:
Der mögliche Verschrottungsanteil beim Fertigungsmaterial wird durch nicht abgenommene Rahmenverträge, Planungsfehler, Produktänderungen, Restmengen von Verpackungen etc. verursacht. Aber auch die Endkunden werden mit Restposten zu kämpfen haben und dies auf höchster Wertschöpfungsebene. Der Anteil hängt sicher mit der Vertriebskette und der Planbarkeit des Abnehmermarktes zusammen. Aber ich rechne auch in diesem Bereich mit Verschrottungsrisiken von bis zu 20 Prozent.


Verschrottung heißt aber auch Neubedarf, ergo mehr Umsatz für MSC …

Klein:
Mit Priorität beobachten wir die wirtschaftliche Entwicklung unserer Kunden und tun alles dafür, dass diese positiv verläuft. Selbstverständlich wollen auch wir weiter wachsen und brauchen zusätzliches Geschäft – aber mit gesunden und wettbewerbsfähigen Kunden. Wir sind sicher, dass die Unternehmen, die durch diesen Prozess schadlos hindurch kommen, zur Oberliga der Industrie gehören werden, mit absoluten Zukunftschancen für ihr jeweiliges Tätigkeitssegment.


Wer ist denn vor allem in der Bleifrei-Pflicht? Der kaufmännische oder technische Bereich eines Unternehmens?

Klein:
Ganz klar beide Seiten. Es besteht ein intensiver Kommunikations- und dringender Verbesserungsbedarf. Beide Seiten müssen ihre Umstellungsprozesse synchronisieren. Die Verarbeitung von bleifreien Komponenten kann in der Fertigung mit dem bisherigen Prozess erhebliche Probleme bereiten, und die bisherigen Materialien lassen sich in der Regel in den neuen Prozessen nicht verarbeiten.

Ein straffes Projektmanagement, die Zusammenarbeit zwischen allen Bereichen, entstehende Qualifizierungsmaßnahmen des Fertigungspersonals bis hin zu Einzeltests bei besonders kritischen Prozessschritten sind unumgänglich. Alleingänge führen dabei erfahrungsgemäß zu Störungen.


Herr Andreae, Sie bezeichnen eine zu frühe Umstellung als genauso ungünstig wie eine zu späte. Wie kann ein Kunde sicherstellen, einerseits nicht zu früh umzustellen – um nicht auf seiner Ware sitzen zu bleiben – , aber andererseits nicht zu spät dran zu sein?

Andreae:
Schnelle Umstellungen können für manche Unternehmen richtig sein. Allerdings wird die Mehrzahl der produzierenden Unternehmen noch nicht auf alle Bauteile in ausreichender Qualität und Quantität zurückgreifen können. Es ist zwingend notwendig, den richtigen Schnittpunkt zum maximalen Verbrauch zu finden. Hier wollen wir beraten. Letztendlich ist das aber von jedem Unternehmen individuell zu untersuchen und selbst zu entscheiden.


Welche Vorlaufzeiten legen Sie Ihren Kunden nahe?

Klein:
Die Kunden sollten sich auf jeden Fall ein zeitliches Limit setzen, z.B. Q3/2005. Auf Basis dieses Ziels muss die Planung für die Umstellung der kompletten Supply Chain aufgebaut werden. Eine enge Zusammenarbeit mit den Lieferanten und den Kunden ist dabei unumgänglich. Bei einigen kundenspezifischen Produkten, speziell bei unseren ASICs, haben wir bereits vollständig auf bleifreie Produkte umgestellt – natürlich in enger Zusammenarbeit mit den Kunden.


Was bedeutet das in der Konsequenz für die einzelnen Baugruppen?

Andreae:
Alle Produkte müssen entsprechend der gesetzlichen Vorgaben klassifiziert werden. Außerdem ist in Abstimmung mit den Produzenten eine Vorgehensweise für die Übergangsphase festzulegen. Zur sauberen Trennung der konventionellen von den bleifreien Bauteilen ist eine gesonderte Artikelnummer als Voraussetzung der Planbarkeit des Umstellungsprozesses unbedingt erforderlich.


Kaum ein Endkunde fertigt noch ausschließlich alle Produkte und Teilsysteme selbst. Wie können die Kunden sicherstellen, dass auch die beteiligten Partner wie EMS-Unternehmen oder Subsystemlieferanten zeitgerecht umstellen?

Andreae:
Es muss ein breites Verständnis der notwendigen Maßnahmen bei den Endkunden vermittelt werden. Das beinhaltet technologische, aber auch materialwirtschaftliche und rechtliche Aspekte. Alle Punkte sind für mich gleichbedeutend. Leider nehmen viele an, dass es sich nur um eine Lotumstellung handelt. Dies ist eine klare Fehleinschätzung. Es müssen – wie beim EMS – die Prozesse und notwendigen Maßnahmen auch beim OEM analysiert werden. Die Hauptarbeit liegt dann in der Überprüfung der wirkungsvollen Umstellungsprozesse beim EMS und der Synchronisation aller Schnittstellen, intern und extern.


Welche Kontrollmechanismen werden ab 2006 eingesetzt, um sicherzustellen, dass die Endprodukte den Richtlinien entsprechen, und wer ist letztendlich haftbar?

Klein:
Der Gesetzgeber nimmt den Hersteller bzw. den In-Verkehr-Bringer der Elektro- und Elektronikgeräte in die Pflicht. Ich bin aber davon überzeugt, dass sich bei einem nachgewiesenen Vergehen der Hersteller auch an den Vertreiber der Einzelkomponenten gewendet werden, um sich selbst schadlos zu halten. Wer die Einhaltung der Richtlinien überwacht, ist im Moment noch nicht festgelegt, wird aber im Ministerium diskutiert. Es ist zu vermuten, dass auch die EMS eigeninitiativ Kontrollen durchführen lassen werden.


Wer wird in die Pflicht genommen, wenn die Zuverlässigkeit der bleifrei produzierten Baugruppen im Gegensatz zur konventionell produzierten nicht gegeben ist?

Andreae:
Über die Zuverlässigkeit der Produkte lassen sich auf Grund der bisherigen wenigen Erfahrungswerte noch keine genauen Aussagen treffen. Hierzu muss es entsprechende vertraglich geregelte Vereinbarungen zwischen den Parteien geben. Aber auch Qualifizierungsmaßnahmen der umgestellten Produkte werden notwendig sein.


Wie intensiv müssen sich Kunden und Distributoren nach 2006 mit dem Thema Traceability – gerade im Hinblick auf Haftungsfragen – auseinandersetzen?

Andreae:
Traceability wird insgesamt einen höheren Stellenwert erhalten. Die Kunden werden zukünftig bei Feldausfällen und Reklamationsvorgängen auf eine durchgängige Chargenrückverfolgbarkeit bestehen. Auch um sich davon zu überzeugen, dass der Umstellungsprozess technologisch und fertigungstechnisch einwandfrei erfolgt ist. Die kleinsten Lücken in der Nachweisführung werden zu unangenehmen Fragen oder sogar zu Forderungen finanzieller Art führen.


Welchen Einfluss hat das Bleifrei-Thema auf die Vertragsgestaltung und z.B. auf Abnahmeverpflichtungen?

Andreae:
Auch hier ist eine offene und detaillierte Abstimmung zwischen alle Vertragspartnern unumgänglich, denn alle innerhalb der Lieferkette haben ein Bestandsrisiko. Ein richtiger Verlierer in der Kette wird die anderen mit hineinziehen. Wer also meint, er könne die Probleme auf andere übertragen, schadet sich folgerichtig selbst. Eine Identifizierung der Probleme bereits im Jahr 2004 erhöht die Wahrscheinlichkeit einer sauberen Problemlösung.


Was für Erfahrungen haben Sie mit der Umstellungspolitik der Bauelementehersteller gemacht?

Klein:
Die Hersteller der Bauelemente haben sich leider auf kein einheitliches Verfahren bezüglich ihrer Umstellungsprozesse geeinigt, nicht einmal auf eine einheitliche Kennzeichnung. Dies erschwert die Arbeit aller nachgeschalteten Unternehmen. Wir verpflichten uns, nur eindeutig definierte und entsprechend gekennzeichnete Ware zu liefern. Das stellt einen erheblichen logistischen Aufwand dar, muss aber sein! Ich bin mir ganz sicher, dass die Hersteller sich außerdem auf die Bereinigung ihrer Produktpalette konzentrieren. Manche Produkte werden überhaupt nicht umgestellt oder einfach abgekündigt werden. Dies bedeutet Redesigns – auch bei laufenden Produkten und Projekten.


Wird die Gunst der Stunde also zu Portfolio-Bereinigungen genutzt werden?

Klein:
Bestimmt, denn hier liegt eine enorme Chance für alle beteiligten Unternehmen, sich von so genannten Altlasten zu befreien. Ich denke dabei an Altprodukte, die bekannten ungeliebten Kinder. Ich denke aber auch an eine Reduzierung von Artikelnummern auf der Fertigungsmaterialseite. Da in diesem Zusammenhang alle Artikel betrachtet werden müssen, können hier z.B. doppelte Artikelnummern einfach zusammengeführt, Toleranzen vereinheitlicht und Herstellerfreigaben modifiziert werden. Sony z.B. hat das in bekannter Manier genutzt und die Zahl der laufenden Artikelnummern von über 800.000 auf 100.000 reduziert. Allein diese Maßnahme kann die Mehrkosten, die mit der Bleifrei-Umstellung zusammenhängen, minimieren und mittelfristig die Wettbewerbslage überproportional verbessern. Genau das, was wir in Deutschland brauchen.


Die Komplexität der Materialwirtschaft nimmt durch das Thema Bleifrei weiter zu. Denken Sie, dass das Outsourcing der Materialwirtschaft bei produzierenden Unternehmen hierdurch einen weiteren Schub erhält?

Andreae:
Ich empfehle den EMS-Unternehmen schon seit längerem, das Outsourcing von Teilen ihrer Materialwirtschaft zu forcieren. Man tut sich im Moment noch schwer, trotz erheblicher finanzieller Belastungen und ineffizienten Prozessen, die wettbewerbsschwächend wirken. Bei den EMS überwiegen die negativen Argumente. Outsourcing wird immer noch gleichgesetzt mit dem Outsourcing einer Fertigung. Die Vorteile sprechen jedoch für sich. Die Prozesse der Materialwirtschaft sind bei vielen Lieferanten „best of class”, damit verbessern sich beim Kunden die Kosten- und auch die Prozessqualität. Weiterhin können Doppelprozesse, die heute die Kosten nicht unerheblich erhöhen, vermieden werden. All das könnte die Wettbewerbs- und Beschäftigungslage in Deutschland nachhaltig verbessern. Die Leistung würde dort erbracht, wo auch die Kernkompetenz liegt. Ich hoffe sehr auf das Verständnis und die Öffnung für diesen neuartigen Weg.

Das Interview führte Carmen Skupin

Distribution als Bindeglied – Schlüsselrolle bei der Bleifrei-Umstellung

Vor massiven Herausforderungen steht die Elektronikindustrie durch die Umsetzung der EG-Richtlinien WEEE und RoHS in nationales Recht. Die „Bleifrei-Umstellung” wird nicht selten nur mit Lötprozessen und dem entsprechenden Produktionsequipment in Verbindung gebracht. Immer häufiger zeigt sich aber, dass die Prozessumstellungen auch umfangreiche Anpassungen in der Materialwirtschaft und den umliegenden Fachbereichen der Unternehmen nach sich ziehen.

Auch Distribution muss sich mit dieser Thematik verstärkt auseinandersetzen. Als Schnittstelle zwischen Herstellern und produzierenden Unternehmen muss sie zum einen dem Informationsbedürfnis ihrer Kunden gerecht werden, zum anderen den Umstellungsprozess aktiv begleiten.

Bleifrei-Seminare mit Schwerpunkt Materialwirtschaft

Zum Thema Bleifrei veranstaltet MSC/Gleichmann eine Seminarreihe, die sich vor allem um die materialwirtschaftlichen Aspekte dieser Thematik dreht. Unter der Federführung von Thomas Klein und Hubertus Andreae wird die Problematik der Materialwirtschaft aufgezeigt, und es werden praxisorientierte Lösungen angeboten.

Die Seminare verdeutlichen, dass in den meisten Unternehmen eine erhebliche Prozessmodifikation kurzfristig durchgeführt werden muss. Im Anschluss daran werden die MSC-Experten natürlich auch über die technische Umsetzung der Richtlinie referieren. Aber der Schwerpunkt bleibt bei der Materialwirtschaft, und so richtet sich das Seminar insbesondere an die Praktiker im Einkauf also Einkäufer, Gruppenleiter, Einkaufsleiter, Controller sowie an Vertriebsmitarbeiter, Vertriebsleiter und Arbeitsvorbereiter.

Weitere Informationen und Anmeldeformulare erhalten Sie unter bleifrei@msc-ge.com bzw. www.msc-ge.com

Hubertus Andreae berät als selbstständiger Experte produzierende Unternehmen in den Bereichen Materialwirtschaft, Prozessoptimierung und Outsourcing. Andreae war unter anderem für Bosch, Motorola und zuletzt als Geschäftsführer der BuS Elektronik in Riesa tätig.

Der Experte unterstützt nun die Projektleitung der Bleifrei-Initiative der MSC.

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