Die Prozesse müssen stimmen

Entscheidungskriterien für den Einkauf von Baugruppen und Empfehlungen, um die Geschäftsprozesse mit dem Auftragsfertiger nachhaltig zu optimieren

Der Baugruppen- oder Produkteinkauf setzt ein umfassendes Prozesswissen sowie eine weitaus engere Zusammenarbeit zwischen den Parteien voraus als der Einkauf von Standardbauelementen. Um das Potenzial der Fremdfertigung auszuschöpfen und Risiken zu vermeiden, müssen die Produkte sinnvoll in die gegenseitigen Unternehmensprozesse und Logistik von Kunde und Dienstleister eingebunden sein. Hierfür besteht bei der Auswahl eines EMS-Providers neben dem Transfer der Stücklisten, Verfahrensanweisungen und Prüfvorschriften die Notwendigkeit, dessen interne Prozesse, Schnittstellen und Leistungsmerkmale zu bewerten. Darüber hinaus darf der Baugruppeneinkauf nicht nur produktpreisorientiert, sondern gesamtkostenorientiert sein, was umfassende Prozesskenntnisse voraussetzt.

Hubertus Andreae*

Mehr und mehr Unternehmen lösen sich von der eige­nen Baugruppenproduktion. Allerdings aus unterschied­lichen Gründen:

■ Kostendruck,

■ Kapazitätsengpässe,

■ stark schwankende Bedarfe,

■ Risikoverlagerung,

■ Bilanzoptimierung,

■ Investitionsumlenkung,

■ Technologiewechsel.

Die Auswahl eines EMS-Providers (Electronic Manufacturing Services) erfordert, wenn man alle Potenziale nutzen und Risiken vermeiden will, umfassende Vorbereitungen und Pro­zessanpassungen. Zusätzlich zu den Stücklisten, Verfahrens­anweisungen und Prüfvorschriften ist es notwendig über die internen Prozesse, Schnittstellen und die Leistungsmerkmale beim Dienstleister nachzudenken. Da bisherige Prozesse meist angepasst werden müssen, kommt es darauf an, auch aus Sicht der Schnittstellenmöglichkeiten den geeigneten Partner zu finden.

Trotz dieser Notwendigkeit wird die Auswahl oft nur am Abga­bepreis und nicht an der Prozessfähigkeit festgemacht. Der Bedeutung des EMS wird das nicht gerecht und Probleme in den Geschäftsprozessen sind somit vorprogrammiert. Es muss klar sein, dass die falsche Wahl eines Dienstleisters das Geschäft erheblich beeinträchtigen kann: Lieferrückstän­de, Kundenverlust, Konventionalstrafen etc. sind die Folgen. Bei der Auswahl eines Fertigungspartners gilt es strukturiert vorzugehen: Nur wenige OEM (Original Equipment Manufac­turer) analysieren mehr als die technischen Voraussetzungen und machen sich Gedanken über ihre eigenen Prozesse. Nur die Gebäude und Maschinen zu besichtigen ist nicht genug. Technisch sind die EMS in der Regel hochqualifiziert. Nur die Maschinen und Gebäude sind letztendlich nicht entscheidend für den Erfolg dieser neuen Geschäftsbeziehung. Entschei­dend sind die Prozesse zwischen und in den Unternehmen. Genau dort muss das Hauptaugenmerk der Vorarbeit und der Entscheidungen liegen.

Sieht man sich Statistiken an, aus welchem Grund, Kunden Produkte von einem EMS zu einem anderen verlagern, so sind technische Belange selten die Ursache.

Viel mehr sind es:

■ abwandernde Preise,

■ Terminuntreue,

■ Kultur- und Kommunikationsprobleme,

■ zu lange Reaktionszeiten,

■ fehlende Flexibilität.

Hier wurden oft Fehler im Vorfeld gemacht. Aus diesen Fehlern sollten alle Beteiligten lernen, denn jede Verlagerung kostet Zeit und Ressourcen. Wenn man die Verlagerungs­kosten auf die Baugruppen umlegen würde, erkennt man, dass ein kleiner Preisunterschied nach einer weiteren Verlage­rung nur noch eine untergeordnete Rolle spielt. Ganz abge­sehen davon, dass durch dieses Vorgehen eine Wiederholung der Fehler nicht auszuschließen ist.

Dennoch haben fast alle Unternehmen, die eine Verlagerung vornehmen, eines gemeinsam. Sie sind in ihren spezifischen Fachbereichen nicht ausreichend auf diese Aufgabe mit einer externen Ferti­gung vorbereitet. Die Folgen sind, ein reduziertes Leistungsprofil und Nichter­füllung der erwarteten Ergebnisse. Auf Grund der gegenseitigen Abhängigkei­ten ziehen sich in Extremfällen die bei­den Parteien in wirtschaftliche Schwie­rigkeiten. Das muss und darf nicht sein.

Das Problem beginnt oft beim Auftragseingang

Der Prozess des Auftragseingangs ist in den meisten Fällen der erste schwerwie­gende Problemfall. Den längerfristigen Bedarfen und Bedarfsschwankungen wird zu wenig Rechnung getragen und Marktgegebenheiten werden nicht ausreichend abgebildet. Die gesamte Prozesskette dahinter wird somit unzu­reichend ausgerichtet.

Ein guter Abgabepreis und leistungs­starke Lieferperformance bedingt das Schnüren eines Paketes. Eine Lösung kann ein längerfristiger Rahmenauftrag sein. Hierfür gilt es allerdings auch die Rahmenbedingungen dazu festzulegen. Folgende Punkte sind u.a. zu vereinbaren:

■ Jahresbedarf,

■ Losgrößen,

■ Lieferfrequenzen,

■ Verschiebungs- und Stornierungsbedingungen,

■ Materialabnahmebedingungen,

■ Rahmenauslaufbedingungen,

■ Ausplanungsreichweiten,

■ Umgang mit langen Materialliefer­zeiten,

■ diverse zusätzliche gegenseitige Verpflichtungen,

■ Bestellzyklen,

■ Bestellverfahren.

Wenn diese Bedingungen und gegensei­tigen Verpflichtungen festgelegt wurden, müssen sie wiederum in der EDV abge­bildet werden. Weiterhin sind nach Mög­lichkeit die Lieferanten mit ihrem spezifi­schen Leistungsprofil eng einzubinden. Einkäufer meinen oft, sie hätten gute Arbeit geleistet, in dem sie keine Ab­sprachen vorgenommen haben oder keine Verpflichtungen eingegangen sind. In Wirklichkeit haben sie sich einen Bärendienst geleistet. Denn wer diese prozesstechnischen Abstimmun­gen umsetzt, wird schnell feststellen, wie stark sich ein Abgabepreis verbes­sern lässt. Es geht soweit, dass sich mit der Einbindung optimierter logistischer und EDV-technischer Rahmenbedingun­gen die deutschen Lohnkostennachteile in der Fertigung gegenüber Osteuropa durch reduzierte Gemeinkosten neutra­lisieren lassen.

Es gibt also Lösungen auch hier in Deutschland produzieren zu lassen und dennoch wettbewerbsfähig zu sein. Hier­für ist es natürlich erforderlich für jede Baugruppe einen Ablauf festzulegen. Wer meint, das sei zu viel Arbeit, irrt. Die Umsetzung von täglichen Ersatzpro­zessen, wo wieder mal „das Eisen aus dem Feuer geholt werden muss“, ist um einiges komplexer und zudem auch noch unkalkulierbar und teuer.

Produkte, die dagegen in die gegenseiti­gen Unternehmensprozesse und Logistik sinnvoll eingebunden sind, werden zu den begehrten gehören. D.h. zu den Produkten, die gegenseitig erfreu­liche Erträge abwerfen, betreuungsredu­ziert und termintreu sind. Genau das was sich alle wünschen und was die heutige Marktsituation mehr den je verlangt.

Und warum tun wir es nicht? Die Ein­käufer werden oft nur produktpreis­orientiert ausgerichtet und nicht ge­samtkostenorientiert. Zudem haben sie oft keine umfassenden Prozesskenntnis­se, da diese beim Einkauf von Standard­bauelementen nicht erforderlich waren und sind mit der Outsourcing-Entschei­dung selber überrannt worden.

Die Gesamtkosten betrachten

Am Anfang einer Verlagerung steht oft ein hoher Kostendruck, dem die eigene Produktion nicht mehr gerecht wird. Dies begann in den 60er-Jahren des 20. Jahrhunderts, wo man Vorfertigungen wie Kunststoffspritzen, Fräsen oder Wickeln verlagerte. Später folgte die Leiterplattenfertigung. Und auch die Baugruppenfertigung ist in diese Kategorien einzuordnen. Die Ergebnisse sind stets vergleichbar: Die Produkte werden kostengünstiger und haben eine höhere Qualität. Dennoch besteht innerhalb des Unternehmens oft Unverständnis darüber, dass ein Dritter verbessert produzieren kann. Das hat allerdings selten mit einem Unvermögen der Mitarbeiter oder der Organisationen zu tun, sondern liegt an den anderen Rahmenbedingungen die ein Baugruppenproduzent hat.

Eine Auswahl dieser kostenreduzierenden Faktoren:

Wertschöpfungskosten:

■ direkter Lohnvorteil (Ostdeutschland, Osteuropa, Asien),

■ höherer Nutzungsgrad der Maschinen von 15 bis 20 Schichten pro Woche,

■ modernere Maschinen und damit optimierte Bestückkosten,

■ höhere Bestückqualität und höherer First Pass Yield.

Materialkosten:

■ stärkere Einkaufspositionen mit verbesserten Einkaufspreisen,

■ direkter Bezug beim Bauelementehersteller,

■ Nutzung von Bauelementesynergien.

Indirekte Kosten:

■ schlanke Organisation,

■ geringe Fertigungsgemeinkosten,

■ verbesserte Materialgemeinkosten.

Darüber hinaus gibt es noch weitere Leistungsmerkmale, die ebenfalls bei der Auswahl eines Auftragsfertigers zu betrachten sind:

■ Lagerumschlag,

■ Abschreibungshöhe für nicht mehr verwertbares Material,

■ Einkaufsprozesse,

■ Logistikprozesse intern/extern,

■ interne Fehlerquoten,

■ EDV-Leistungsstärke,

■ Durchlaufzeiten,

■ Termintreue,

■Möglichkeiten, die eigenen Marktgegebenheiten leistungsstark abzubilden.

So wichtig alle diese Punkte sind, so selten analysieren Einkäufer oder Projektverantwortliche Auftragsfertiger nach diesen Kriterien.

Die Praxis zeigt, dass die Dienstleister, welche die aufgeführten Punkte im Griff haben, die besseren Partner sind. Den Standpunkt zu vertreten, dass sich diese Leistungsmerkmale im Abgabepreis widerspiegeln, ist reine Theorie. Eine echte Baugruppenkalkulation ist ausgesprochen komplex und schnell fehlerbehaftet. Wer mit einem kritischen Blick auf die eigene Kalkulation schaut, wird diese Aussage sicher schnell bestätigen.

Der Lagerumschlag ist Indikator für die Leistungsfähigkeit eines EMS

Am Lagerumschlag lässt sich aufzeigen, welche Prozesse den Lagerumschlag direkt und indirekt beeinflussen. Obwohl der Begriff Lagerumschlag weit verbreitet ist, werden oft abweichende Definitionen verwendet.

Die Kennzahl des Lagerumschlages gibt an, wie oft sich der Lagerbestand im Durchschnitt im Jahr dreht. Übliche Berechnungsverfahren sind: Jährlicher Materialbedarf / Lagerbestand = Lagerumschlag in turns.

Oft wird auch der letzte Monatsbedarf auf ein Jahr hochgerechnet und wieder durch den Lagerbestand geteilt. Typische Umschlagswerte sind 2 bis 4 turns. Ein oft vorzufindender aber schlechter Wert, der die Schwäche von Unternehmensprozessen klar widerspiegelt.

Die besten produzierende Elektronikunternehmen in Deutschland haben 5 bis 8 turns. Basis dieser Angaben sind vergleichbare Markt- und Lossegmente.

Ursachen für die hohen Lagerbestände sind Schwachpunkte in einem Unternehmen oder innerhalb einer OEM-EMS-Beziehung wie z.B.:

■ schlechtes Einkaufsprozesse,

■ fehlendes Lagercontrolling,

■ fehlende Einkaufsstandards,

■ unzureichende Einkaufsposition am Markt,

■ kein strategischer Einkauf,

■ mangelhafte EDV-Tools,

■ die interne und externe Supply Chain ist nicht umfassend aufgebaut

■ die Dynamik der Kunden- und Lieferantenmärkte sind nicht aufeinander abgestimmt,

■ fehlende logistische Prozesse, Kommunikationsmängel,

■ Kapazitätsengpässe.

Leider sind sich die Betroffenen oft nicht der Unzulänglichkeit bewusst, denn sie meinen, die hohen Lagerbestände sichern die ständige Verfügbarkeit. Das ist falsch. Das Gegenteil ist der Fall: Hohe Bestände entstehen selten oder sogar nie strategisch und geplant, sondern zu meist durch Missmanagement. Somit ist der Abfluss des Materials ungesichert und führt mittelfristig zu Materialabschreibungen von mindestens 5% im Jahr. Wer diese 5% in den Abgabepreis einkalkuliert, hat entweder zu hohe Abgabepreise oder kalkuliert falsch. Wer diese Abschreibung nicht einkalkuliert, hat irgendwann ein Bilanz- oder Eigenkapitalproblem. Mischkalkulationen verschleiern die eigentlichen Probleme, die einen früher oder später treffen. Stattdessen gilt es die Probleme kontinuierlich zu erfassen und Korrekturen vorzunehmen.

Ein verzahntes Prozessgeflecht

„Ich möchte hier über die sehr komplexen Geschäftsprozesse berichten und Anleitungen geben, wie alle Parteien stärker vom gegen­seitigen Wissen und Know-how partizipieren können.

Auf gar keinen Fall möchte ich aber die vielen fleißigen und leistungsstarken Auftrags­fertiger anprangern. Stattdessen möchte ich allen Beteiligten die Augen öffnen für ganzheitliche Betrachtungsweisen, für übergreifendes Prozessdenken und -handeln. Oft genug habe ich Rahmenbedingungen vorgefunden, in denen Kunden mit aller Kraft niedrige Preise verlan­gen, aber innerhalb der Prozesskette ihre ureigensten Aufgaben nicht erfüllen. Der Auftragsfertiger bemüht sich dennoch die Kohlen aus dem Feuer zu holen. Aber diese Sondermaßnahmen erhöhen die Kosten genauso wie nicht abfließende Materiallagerbestände irgendwann einkalkuliert werden müssen. Diese Faktoren bringen mittel- bis langfristig die Geschäftsbeziehung in eine Schieflage. Deshalb gilt es unbedingt die gesamte Prozesskette zu betrachten, in der jeder seine Aufgaben und Pflichten hat und erfüllen muss.“

(Hubertus Andreae, dreiplus)

*Hubertus Andreae war in seiner langjährigen Tätigkeit bei BOSCH und Motorola u.a. projektverantwortlich für eine umfassende Fertigungsverlagerung an einen EMS und wechselte später auf die Seite eines Auftragsfertigers. Heute beschäftigt sich Andreae gleichermaßen mit der OEM- und EMS-Branche, wo er Prozesse in Materialwirtschaft, Vertrieb und Controlling optimiert und zu diesem Thema Seminare des FED durchführt.

dreiplus Tel. +49(0)30 84417913

Redakteur: Claudia Mallok

ELEKTRONIKPRAXIS NR. 6 – 24. März 2006

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