Richtige Prioritäten setzen

Wie sich Elektronikfertigung in Deutschland nachhaltig stärken lässt

Bei Produzenten von elektronischen Baugruppen schlägt die Materialwirtschaft mit einem Anteil von 60 bis 80% in Unternehmensumsatz und -ertrag zu Buche:

Etwa 5% Kostenänderungen in den Materialwirtschafts- und Finanzbereichen stehen ca. 25% Kostenänderungen in der Produktion gegenüber. Wer also auf die Material- und Finanzstruktur Einfluss nimmt, erzielt einen größeren Erfolg, als mit reinen Lohnkostenvorteilen außerhalb von Deutschland erreichbar ist. Voraussetzung ist ein ganzheitliches Denken und Handeln über alle Unternehmensbereiche.

Hubertus Andreae*

Elektronikproduzenten haben seit Jahren Wirtschaftskennzahlen, die zwar oft dem deutschen Durchschnitt entsprechen, aber nicht dem Marktbedürfnis und heutigen Möglichkeiten. Rd. 400 000 verlorene Arbeitsplätze in der deutschen Elektronikbranche sind der Beweis. Ein Beispiel für falsches Kennzahlenbewusstsein sind Lagerumschläge von 2 bis 4 Turns und Materialabschreibungen von bis zu 5% pro Jahr.

Unternehmen, die die Prozesskette schon heute in Deutschland beispielhaft beherrschen, können selbst in Segmenten von kleinen und mittleren Serien, Lagerumschläge von 6 bis 8 Turns und Abschreibungen <1% realisieren- Voraussetzung sind verbesserte Arbeits- und Analyse-Tools für den Einkauf (werden fast nie durch die PPS-Systeme als Standard angeboten), ein echtes unabhängiges Einkaufs-Controlling und eine auf das Unternehmen ausgerichtete Prozessoptimierung innerhalb der unterschiedlichen Fachbereiche. Neuartige Simulations-Tools bewirken zusätzlich, frühzeitiges Erkennen von Problemen bevor der „Schaden“ im Lager eingetreten ist.

Dagegen handeln klassische Einkaufsorganisationen, was das Lagermanagement betrifft, heute oft noch rückwärts gerichtet. Zu diesem Zeitpunkt ist dann aber in der Regel das Kind bereits in den Brunnen gefallen. Allein diese Maßnahmen bewirken einen enormen Finanzierungs- und Kostenvorteil. Experten bestätigen allein hierbei ein Potenzial von 30 bis 50%.

Materialwirtschaftsmanagement wird immer wichtiger

Die Bedeutung dieses veränderten Materialwirtschaftsmanagement wird heute und künftig noch wichtiger, da die Bedarfswelt der Endkunden bzw. OEM (Original Equipment Manufacturer) mehr und mehr sprunghaft aufgestellt ist. Viele Produzenten wissen sich hierbei nur mit einer Pufferlagerung zu helfen. Die Finanzierungskosten sind zwar nicht erwünscht, aber das geringere Problem. In die dadurch eintretenden länge­ren Verweilzeiten, strahlen erheblich wichtiger die Pro­bleme der Kundenabwande­rungen, Insolvenzen oder auch die technischen Ände­rungen hinein. Material kann nicht mehr verwendet wer­den, keine Kostenübernahme durch den Kunden, die letzte Lösung – Abschreibungen.

Sinnvolle Prozessketten zwischen Kunde und Lieferant knüpfen

Ein weiteres wichtiges Optimierungssegment ist die sinnvolle Verknüpfung von Prozessketten zwischen den Kunden, Produzenten (Ver­trieb, Einkauf, Arbeitsvor­bereitung) und Lieferanten. Störungen die hier auftreten, wirken für jedes Unterneh­men kritisch d.h. kosten-und risikotreibend. Zu spät erkannte Bedarfe führen z.B. zu Notkäufen des Einkaufs, um die Lieferfähigkeit sicher­zustellen. Die Preisstellung ist hierbei oft fast Neben­sache. Sonderaktionen in der Fertigung führen zur Ver­schwendung von Ressour­cen, Ersatzprozesse zu Feh­lern und erhöhten Kosten.

Oft sind die Einkaufsbe­reiche nicht die Problemver­ursacher, sondern teilweise sogar die Opfer. Sie müssen ausbaden, was an Prozess­mängeln in den Unterneh­men um sie herum verur­sacht wird. Unkritische Be­trachter sehen immer nur die Lieferverzüge oder Be­stände. Gleiches gilt für die Fertigung und den Vertrieb.

Ganzheitlich über alle Unternehmensbereiche denken und handeln

Es wird dringend Zeit, ganzheitlich zu denken und zu handeln, stets das gesam­te Unternehmen zu betrach­ten und endlich die Gräben zwischen Technik und Kauf­leuten zu überbrücken. In meinen vielen Unterneh­mensanalysen, Vorträgen und Seminaren erhalte ich Zustimmung zu diesen Prob­lembewertungen und es wird oft sogar Bereitschaft für einen Neuanfang signalisiert. Leider finden sich in den Unternehmen zu wenig Ver­bündete um diese Prozesse anzuschieben. Allerdings sind dort, wo die Geschäfts­leitung den Handlungsbe­darf erkannt hat, Verände­rungen in ungeahnten Größenordnungen möglich.

Um einen Neuanfang erfolgreich zu starten, sind die Prozesse spezifisch für jedes Unternehmen genaue­stens zu untersuchen, auf­einander abzustimmen und neu auszurichten. Die Ver­fahren sind vielfältig und unternehmensabhängig und sollten von prozesserfahre­nen Personen geleitet wer­den. Die Folge sind eine er­heblich verbesserte Prozess­transparenz und eine hohe Reaktionsfähigkeit.

Den Einkaufsorganisatio­nen müssen ebenfalls ent­weder verbesserte EDV-Tools oder freie Kapazitäten zur Verfügung stehen, um auf die wechselnden Bedarfe der Fertigung schnell reagieren zu können.

Wer das nicht beachtet, kann die Möglichkeiten, die die Materialwirtschaft mit einem Anteil von 60 bis 80% auf Unternehmensumsatz und -ertrag hat, nicht aus­schöpfen. Unternehmen, die dies in ihrer Organisations­form berücksichtigen und auch innerhalb der Geschäfts­leitung dem Einkauf den not­wendigen Stellenwert zubilli­gen, werden auch mit deut­schen Produktionsstandorten im internationalen Wettbe­werb weiter bestehen. Aus­schließlich technologiegetrie­bene Unternehmen, werden ihre Position verlieren.

Die Wirkung einer derart leistungsstarken Organi­sation, kann man an einigen Kennzahlen schnell erken­nen. Reaktionszeiten von Auftragseingang bis zur Auslieferung, Durchlaufzeiten, Häufigkeiten von Eildienst­zuschlägen, Liefertreue auf Basis von Auftragsbestäti­gung und Kundenbestellung spiegeln die Situation wider.

Auch den Bauteile­lieferanten in die Prozesse miteinbeziehen

Die Kernkompetenz vieler Bauteilelieferanten liegt nicht auf der technologi­schen Seite, wie beim Bau­gruppenproduzenten, son­dern auf der Materialwirt­schaftsseite. Es werden Hun­derttausende Artikel bewegt, organisiert, gemanagt. Tau­sende von Kunden oft indivi­duell betreut, Komplexität steht im Vordergrund. EDV-Verfahren und Prozessbe­herrschung spielen hierbei eine entscheidende Rolle.

Warum nutzen Produzen­ten diese Fähigkeiten noch zu wenig? Warum ist man sel­ten bereit, Teile der Material­wirtschaft zu verlagern? Ver­gleicht man die Sachlage bei Outsourcing-Projekten zwi­schen OEM und EMS sowie zwischen EMS und Distibu­tor, stellt man eine entgegen­gesetzte Situation fest. Der OEM sucht oft eigenständig einen geeigneten Produzen­ten und transferiert seine Fertigung zum EMS. Er trans­feriert eine seiner Schlüssel­kompetenzen, mit großen wirtschaftlichen Vorteilen.

Bei Outsourcing-Projek­ten der Materialwirtschaft ist der Sachverhalt umgekehrt. Lieferanten bieten ihre Hilfe und Möglichkeiten von sich aus an, werden aber von den Fachebenen abgewiesen. Misstrauen, Machterhalt und eine Fehleinschätzung gegenüber den Chancen, die sich damit auftun würden, stehen im Mittelpunkt. Die Unternehmen tun sich ein­fach schwer, in den sensib­len wirtschaftlichen Zusam­menhängen ihre Kosten­strukturen gegenüber den Lieferanten offen zu legen. Zudem ist immer wieder festzustellen, dass die unter­schiedlichen Parteien keine gemeinsame Sprache spre­chen und somit der Lösung nicht näher kommen.

Ein Lösungsweg kann sein, sich neutrale erfahrene Partner, die aus der Welt der Produzenten kommen und die Nöte kennen, als Pro­jektmanagementunterstüt­zung ins Haus zu holen und mit ihnen gemeinsam diese Prozesse aufzubauen. Diese Personen sind dem Erfolg verpflichtet und nicht Betroffene wie möglicher­weise Einkäufer die bisher mit den Lieferanten verhan­delt haben.

Vorteil: Es werden tem­porär Zusatzkapazitäten ge­schaffen und das Rad muss nicht neu erfunden werden, sondern man kann zügig nach einer qualifizierten in­ternen Prozessanalyse die notwendigen Maßnahmen angehen.

Weiterer Vorteil:

Diese Interimsmanager sind nicht einem bestimmten Lieferanten verpflichtet, sondern können individuell die Auswahl treffen. Leis­tungsbezogene Entlohnung erhöht die Erfolgswahr­scheinlichkeit.

Es gibt noch weit mehr Möglichkeiten, um sich auch in Deutschland auf dem Weltmarkt der Produzenten, nachhaltig und längerfristig zu behaupten. Dazu gehören ein praxisorientiertes Risiko­management, verbesserte Vertriebsprozesse, Vertrags­möglichkeiten und Weiter­bildungsmaßnahmen, aber auch Artikelnummerredu­zierung, Festlegung von Vor­zugstypen und -herstellern, Fest- und Vorzugstypenrüs­tung auf den Bestücklinien bergen enormes Potenzial der Kostenverbesserung (siehe Tabelle S. 2). Alles samt Prozesse die nicht ein­fach zu organisieren sind, aber der Qualifikation in Deutschland erheblich mehr entsprechen als der Versuch bei unserem hohen Lohnniveau mehr operative „Masse“ zu realisieren.

Materialwirtschaft und RoHS

Aus Sicht der Materialwirtschaft besteht zwischen den Risiken in der Umstellung auf RoHS und den hier aufgeführten Problemen eine Verbindung. Das Bestandsrisiko von Verschrottung im Lager von bis zu 30% wäre wesentlich geringer, wenn wir schon frühzeitig unsere Organisationen umgestellt hätten.

Unternehmen, die dies getan haben, werden es bestätigen. Diese Unternehmen gehen risikoreduziert in die Umstellung und Wettbewerbsgestärkt in die Zukunft.

„Wir sollten endlich handeln und RoHS und die Prozessoptimierungen in und um die Materialwirtschaft zum „A“-Thema machen“, appeliert Andreae.

Technologie allein reicht nicht

Deutsche Elektronikproduzenten sind technologisch gut aufgestellt: In der Mehrzahl der Unternehmen steht ein moderner Maschinenpark und hochqualifizierte Mitarbeiter bedienen die Maschinen bzw. arbeiten in anderen Fachabteilungen. Man fragt sich, warum verlieren diese Unternehmen dennoch oft Aufträge an Produzenten in Osteuropa oder Asien?

Und warum haben einige wenige EMS (Electronic Manufacturing Service Provider) auch heute in Deutschland hohe zweistellige Zuwachsraten, während andere erhebliche Umsatzrückgänge verzeichnen?

Die Ursache liegt selten in der technischen Voraussetzung sondern schwerpunktmäßig in verbesserungswürdigen Prozessen um die Technik herum. Die kostentreibenden Hauptthemen sindMaterialwirtschaft, Vertrieb, Prozessketten zwischen Kunden, Produzenten und Lieferanten (Supply Chain), EDV-Möglichkeiten, sowie zu lange Reaktions- und Durchlaufzeiten.

Alle diese Punkte haben einen erheblichen Einfluss auf die Kosten und führen in der Regel zu Wettbewerbsbeeinträchtigungen sowie zu überhöhten Abgabepreisen.

Wenn Elektronikproduzenten in diesen Tätigkeitssegmenten einen großen Teil ihrer Möglichkeiten ausspielen würden, wäre die Abwanderungsgefahr und somit die Arbeitsplatzvernichtung erheblich reduziert.

Experten sind sich einig: Es besteht ein Kostenoptimierungspotenzial bezogen auf durchschnittliche Industrieelektronikprodukte in Höhe von 15 bis 30%. Dass an dieser Stelle so wenig unternommen wird mag daran liegen, dass die Betroffenen die Wirkung unterschätzen, keinen vollständigen Kostengesamtüberblick haben oder zu sehr mit der Technik beschäftigt sind und somit falsche Prioritäten setzen.

Ich kann nur an alle kampfesbereiten Unternehmen appellieren, sich eingehend mit der Materialwirtschaft zu beschäftigen. Nur die Unternehmen, die unter großem Wettbewerbsdruck stehen, wie wir in Deutschland, werden diesen Hebel ansetzen.

Unternehmen die ausschließlich aus der Lohnstruktur ihren Vorteil ableiten wie z.B. in Osteuropa, sind an dieser Stelle oft nicht aktiv und folglich schlechter aufgestellt. Wenn man sich aber nochmals verdeutlicht, dass wir den genannten Maßnahmen auf eine Kostenstruktur von 60 bis 80% Einfluss nehmen, sind die Erfolge hierbei erheblich höher als die reinen Lohnkostenvorteile außerhalb von Deutschland.

Um den gleichen Kostenvorteil im Endpreis zu bewirken, muss man bei Kostenreduzierungen von 5% innerhalb der Materialwirtschaft und im Finanzbereich in der Fertigung eine Kostenänderung von 25% erzielen.

Das sollte Ansporn genug sein. (Hubertus Andreae)

*Hubertus Andreae, Inhaber der Prozessberatung dreiplus, praxisbegleitende Innovationsförderung, ist Experte für Materialwirtschaft und Projektmanagement. Ein zusätzlicher Schwerpunkt seiner Tätigkeit sind die sichere RoHS-Überleitung in den Einkaufs- und Vertriebsprozessen sowie Seminare und Vorträge zu diesem Thema. Andreae hat in verschiedenen Elektronikunternehmen Schlüsselprojekte durchgeführt und geleitet.

dreiplus Tel. +49(0)30 84417913

Redakteur: Claudia Mallok

ELEKTRONIKPRAXIS NR. 3 – 16. Februar 2005

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