RoHS ist Chefsache

Alle Bereiche in einem elektronikproduzierenden Unternehmen sind gefordert - ein Praxisbericht

Die erfolg­reiche, fristgerechte Umstellung auf RoHS ist das wichti­ge Projekt, um die Zukunft eines elektronikproduzierenden Unternehmens abzusichern.

OEMs, die im europäischen Wettbewerb mithalten und auch künftig den Weltmarkt bedienen wollen, brauchen RoHS-konforme Produkte. Voraussetzung sind zuverlässige Fertigungs­partner im eigenen Haus oder EMS-Provider, die die fertigungstechnische Qualität in der kritischen Übergangszeit und danach sicherstellen können.

Hubertus Andreae*

In den letzten Monaten ist ein selektiver Stimmungswandel zum Thema RoHS bei den Elektronikproduzenten festzustellen. Anhand der Reaktionen kann man sie in folgende Gruppen einteilen.

Die Gewinner

Unternehmen, die die Notwendigkeit und die Chance in­nerhalb der RoHS­-Umstellung erkannt haben und mit Nachdruck an der Umstellung arbei­ten. Diese Unternehmen gehören heute teilweise noch nicht zu den TOP der EMS (Electro­nic Manu­facturing Service-Provider), aber das Vorgehen innerhalb des Projektes und die Erfol­ge in der Prozessoptimierung lassen jetzt schon einen Wandel erkennen.

Es ist zu erwarten, dass sich die Spitzengruppe der EMS in Deutsch­land im Jahre 2006 erheblich ver­ändern wird. Die Mitarbeiter aller Bereiche, die Führungskräfte, die Geschäftsführer dieser Unternehmen sind umfassend RoHS-qualifiziert, Projektteams arbeiten an der Umset­zung. Unternehmensspezifische Lösungen sind implementiert, EDV-Lösungen sind erarbeitet und finden Anwendung.

Schon jetzt sind Kennzahlenopti­mierungen zu erkennen. Das anfäng­liche Risiko einer Verschrottung von ca. 30% des Lagerbestandes ist ge­bannt und eine Reduzierung auf ein erträgliches Maß ist zu erwarten. Auch wenn bei den Unternehmen die Pro­jektumsetzung unterschiedlich fortge­schritten ist, so ist das Projekt so klar und zielgerichtet aufgesetzt, dass der Erfolg sich einstellen wird.

Die Mehrzahl

Unternehmen schicken einige, wenige Mitarbeiter zu Fachseminaren. Diese Mitarbeiter erkennen schnell und umfassend die Notwendigkeiten innerhalb ihres Unternehmens. Ein übergreifendes Projektteam besteht noch nicht und man hat erhebliche Zweifel, die Umsetzung im eigenen Unternehmen zu beschleunigen und die Wichtigkeit vermitteln zu können.

Oft höre ich folgende Aussagen von den Seminarteilnehmern: „hier sollte mal mein Vorgesetzter oder Geschäftsführer teilnehmen“, „für das Projekt RoHS bekommen wir nicht die notwendige Zeit“, „hätte ich mal noch einige Kollegen mitgenommen“, „in meinem Unternehmen stehe ich alleine da“. Die Teilnehmer der Seminare sind zu zwei Drittel Techniker und ein Drittel Einkäufer. Geschäftsführer sind eher die Ausnahme, Vertriebsmitarbeiter fehlen in der Regel.

Diese Unternehmen arbeiten an der Umstellung aber nicht bereichsübergreifend und konsequent. Das Projekt wird „halbherzig“ betrieben oder unterschätzt. Die unternehmerischen Risiken sind überproportional hoch und können bei diesem Vorgehen nur geringfügig reduziert werden.

Die möglichen Verlierer der Umstellung

Die möglichen Verlierer haben RoHS entweder noch nicht oder als rein technisches Thema wahrgenom­men. Oft wird die Umstellung rein technologisch betrachtet und verfolgt oder man glaubt an einen „weichen“ Übergang. Man meint, die Kunden werden nicht umstellen wollen, lassen einem genügend Zeit, um die Umstel­lung operativ schadlos zu realisieren oder man wird das Altmaterial geset­zeswidrig verarbeiten.

Diese Unternehmen werden zu den Verlierern gehören. Sie werden die RoHS-Umstellung nicht überstehen oder sich als Ersatzlösung nur noch in den alten bleihaltigen Prozessen be­wegen. Das kann und darf aber nicht die Ausrichtung in die Zukunft sein.

Warum gibt es diese sehr unter­schiedlichen Positionierungen?

Wie so oft ist es abhängig von der Unternehmensleitung. Wenn die Ge­sellschafter oder Geschäftsführer die Chance innerhalb der RoHS-Umstel­lung erkennen und Ihren Mitarbeitern einen eindeutigen Auftrag geben, dann ist der positive Wandel auf dem richtigen Weg. Die Fachbereiche müs­sen sich innerhalb eines Projektteams zusammenraufen. Techniker und Kauf­leute – das wird mir immer wieder be­stätigt – arbeiten heute nicht interes­sensfokussiert zusammen.

Abteilungsdenken und Abschottun­gen sind immer noch stark vertreten. Das muss überwunden werden! Überall da, wo man dieses neue Vertrauensverhältnis aufgebaut hat, wo man eine gemeinsame technisch/ kaufmännische Verpflichtung ein­gegangen ist, sind die Erfolge beein­druckend. Vertriebsmitarbeiter, Ein­käufer, Fertigungsexperten, Quali­tätsverantwortliche bringen sich ge­meinsam ein und durchbrechen bis­herige Mauern der Unmöglichkeit. Wer sich mit RoHS ernsthaft beschäf­tigt, stellt fest, ohne diese übergrei­fende Zusammenarbeit ist es nicht zu schaffen.

Die nicht genutzte Chance!

Die produzierenden Unternehmen benötigen praxisorientierte Hilfe und keine Marketingveranstaltungen in denen theoretische Betrachtungen auf gut gestaltenden Folien im Vorder­grund stehen. Viele Mitarbeiter be­stätigen es. Seminare zum Thema RoHS werden nur als Marketingin­strument genutzt, d.h. Selbstdarstel­lung steht vor Aufklärung und Hilfe­stellung.

Hiermit hat man leider eine Chance von Seitens der Anbieter vertan, aber noch viel schlimmer, man hat viele Teilnehmer abgestumpft gegenüber diesem Thema oder in Teilsegmenten falsch informiert. Ein Zustand der noch heute nachhaltig wirkt.

Wo steht der OEM-Markt?

Ein seltsamer Trend ist zu erken­nen. Die Unternehmen, deren Pro­dukte von der RoHS befreit sind, drängen die EMS mit Umstellungs­wünschen bereits im Jahr 2005. Die anderen Unternehmen, die umstellen müssen, sind unschlüssig, haben teil­weise ihre Produkte noch nicht ein­mal klassifiziert, kennen die Umset­zungsbedingungen und Anforderun­gen nur lückenhaft.

Wo stehen die produzierenden Unternehmen im europäischen Ausland?

Meine Seminare in Großbritannien, der Schweiz, Österreich, Ungarn und der Türkei zeigen, dass die Unterneh­men im Ausland nicht besser, nein, eher sogar schlechter aufgestellt sind als die deutschen Unternehmen. Die­se Firmen liegen mit der Umstellung ihrer Prozesse noch erheblich zurück. Auch das kann für die deutschen Produzenten eine Chance sein!

Haben die deutschen Unterneh­men, die die Umstellung ernsthaft und kostenaufwändig betreiben, einen Wettbewerbsnachteil?

Die OEM, die im europäischen Wett­bewerb mithalten und auch in Zu­kunft den Weltmarkt bedienen wollen, benötigen RoHS-konforme Produkte. Sie brauchen zuverlässige Elektronik­produzenten, die die fertigungstech­nische Qualität in der kritischen Übergangszeit und danach sicherstel­len können. Infolge optimierter indi­rekter Unternehmensprozesse bergen diese Fertigungspartner zudem keine nennenswerten finanziellen Risiken mehr in sich und haben ihre Perfor­mance erheblich verbessert. Das kann nur heißen, RoHS als ein für die Zu­kunft absicherndes Projekt annehmen und umsetzen.

„Nehmen Sie die Umstellung ernst!“

„Nach anfänglichen Anlaufproblemen haben die deutschen Elektronikunternehmen die Umstellung auf RoHS erfolgreich gemeistert.“

„Die befürchteten Abschreibungen von 30% des Lagerbestandes konnten reduziert werden – der Durchschnitt lag nur noch bei 10%.“

„Die Prozessanalysen und notwendigen Modifikationen haben die deutschen Elektronikunternehmen in ihrer Wettbewerbsfähigkeit erheblich gestärkt.“

„Die deutschen Produzenten von elektronischen Baugruppen gehören wieder zur Weltspitze.“ –

„So könnten die Schlagzeilen Ende 2006 lauten, wenn die betroffenen Unternehmen die Chance nutzen würden, um im Zusammenhang mit der RoHS-Umstellung auch Prozessmängel in den unternehmensübergreifenden Prozessen zu beseitigen“, mahnt Hubertus Andreae. „Allerdings“, konstatiert der Prozessexperte, „ist die Mehrzahl der Elektronikproduzenten im Moment davon weit entfernt.“

„Nehmen Sie die Umstellung ernst. Eine Fehlentscheidung kann nachhaltig Ihr Unternehmen gefährden“, warnt Andreae und appelliert, „bilden Sie kurzfristig Koalitionen mit Ihren Kunden und vertrauenswürdigen Lieferanten. Bilden Sie Teams innerhalb Ihres Unternehmens mit Mitarbeitern, die dieses Projekt nicht als lästiges neues Arbeitsfeld betrachten, sondern als Herausforderung und Chance ansehen. Es gibt genügend Beispiele, wo Mitarbeiter nach einer qualifizierten Schulung ihre skeptische Haltung zum RoHS-Projekt aufgegeben haben und hochmotiviert an der Umsetzung mitarbeiten. Solch ein Projekt kann einen Neuanfang für die Mitarbeiter und für das Unternehmen bedeuten. Nutzen Sie diese Chance!“

Übergreifend Handeln

Der Prozessexperte empfiehlt die Bildung eines Projektteams für die RoHS-Umstellung mit folgenden Aufgaben:

  • Bestimmung eines technisch/kaufmännischen denkenden und handelnden Projektleiters
  • Bildung eines bereichsübergreifenden Projektteams
  • Erstellung eines umfassenden Projektplans
  • Umfassende Schulung aller Mitarbeiter
  • Produktanalysen und Klassifizierung
  • Umfassende Prozessanalysen auf die möglichen Einflüsse durch RoHS
  • Prozessmodifikation:
  1. Ordereingang, technologische Orderdifferenzierung
  2. Umstellung der Materialbestellungen
  3. Wareneingangsneuausrichtung
  4. Selektive Materialeinlagerung und -auslagerung
  5. Differenzierte Fertigungssteuerung
  6. Technologische Prozessmodifikation
  7. Produktqualifizierung, etc.
  • EDV-Anpassungen, um die technologische Differenzierung in allen Unternehmensprozessen und in allen Bereichen zu erkennen und zu steuern
  • Lagerbestandsanalyse, -trennung, -kennzeichnung
  • Vertragsmodifikation
  • Projektaudit
  • Prozessanpassungen zu den externen Partnern: Kunden – Lieferanten
  • Investitionsplanung
  • Technische Fertigungsqualifizierung

30% des Lagerbestandes drohen Schrott zu werden

Bei der RoHS-Umstellung müssen alle Produkte, Verfahren, Prozesse und Bauelemente auf den Prüfstand. Das gilt auch für die nicht wertschöpfenden Prozesse. Folgende Beispiele verdeutlichen, wie schwierig und komplex die Umstellung für die Materialwirtschaft ist:

  • Fast alle der bisher verwendeten Bauelemente eignen sich nicht für die neuen „Bleifrei“-Prozesse.
  • Alle Verträge mit den Kunden und Lieferanten sind heute technologisch undifferenziert und müssen auf den Prüfstand um Risiken in 2006 zu minimieren.
  • Lagerbestände müssen den Technologien zugeordnet werden und sind neuen Artikel-Nr.-Kreisen zuzuordnen.
  • Nicht Dreher bzw. Bestände mit Reichweiten über Q3/2005 müssen schnellstmöglich ermittelt, verbraucht, verkauft oder verschrottet werden.
  • Neubestellungen und Neuverträge sind bezogen auf die Technologie zu differenzieren und in den EDV-Prozessen entsprechend abzubilden.
  • Traceability bekommt aus der Sicht der Umstellung höchste Bedeutung um Haftungsschäden von Feldausfällen zu vermeiden.

Der Prozessexperte erkennt schon an diesen wenigen Beispielen sehr schnell, dass alle Fachbereiche eines Unternehmens gefordert sind und die Hauptproblematik der unausweichliche Stichtag ist.

Das ist auch die Ursache dafür, dass die Fachleute damit rechnen, dass 30% der Lagerbestände nicht mehr verwertet werden können, unabhängig von den Ausnahmeregelungen die vermutlich ebenfalls, zumindest im Kfz-Bereich, in naher Zukunft aufgehoben werden.

Wichtig, um diese Abwertung zu minimieren, ist ein ganzheitliches Vorgehen, straffes unternehmensübergreifendes Projektmanagement und eine verbesserte Zusammenarbeit zwischen der Technik und der Materialwirtschaft und dem Vertrieb.

Unternehmensübergreifendes Projektmanagement, Synchronisation mit Lieferanten und Kunden

Darüber hinaus muss eine saubere Prozesssynchronisation zwischen den Kunden, Produzenten und Lieferanten erfolgen. Ohne diese Synchronisation wird eine ganzheitliche Lösung nicht möglich sein. Es ist nach heutiger Sicht zu befürchten, dass jeder der Beteiligten die Fehler auf den Anderen schieben wird, um sich schadlos zu halten. Teilweise sogar mit recht, da die Übergangsprozesse nicht festgelegt wurden. Der Druck der Beteiligten wird sich auf Grund der fehlenden Maßnahmen bis zum Juli 2006 erheblich erhöhen.

Sofortiges Handeln ist dringend erforderlich. Die Unternehmen, die bereits ein aktives Projektmanagement aufgesetzt haben, werden langfristig zu den Gewinnern gehören. Sie müssen nämlich zeigen, dass sie die Supply Chain wirklich beherrschen, d.h. von der Vorratshaltung in der Materialwirtschaft auf eine dynamische Versorgung umgestellt haben und sie müssen professionell das Risikomanagement anwenden.

Alles Dinge, die Elektronikproduzenten helfen, über die RoHS-Umstellung hinaus in Deutschland wieder wettbewerbsfähig Produkte zu produzieren und zu vermarkten, Abschreibungen zu reduzieren, Materialgemeinkosten weit unter 10% zu drücken und erhöhte Flexibilität zu leben. Wer also in der „lästigen“ Umstellung die Chance erkennt, wird keine Mühe scheuen, diese Herausforderung zu beherrschen.

Die Basis für diesen Praxisbericht bilden meine ca. 45 Seminare und Fachvorträge zur RoHS-Umstellung und Materialwirtschaftoptimierung innerhalb der letzten acht Monate vor ca. 1300 Teilnehmern sowie u.a. diverse Unternehmensanalysen, RoHS-Audits und RoHS-Projektarbeiten.

(Hubertus Andreae)

*Hubertus Andreae, Inhaber der Prozessberatung DREI PLUS, praxisbegleitende Innovationsförderung, ist Experte für Materialwirtschaft und Projektmanagement. Ein zusätzlicher Schwerpunkt seiner Tätigkeit sind die sichere RoHS-Überleitung in den Einkaufs- und Vertriebsprozessen sowie Seminare und Vorträge zu diesem Thema. Andreae hat u.a. in verschiedenen Elektronikunternehmen Schlüsselpr­ojekte durchgeführt und geleitet.

dreiplus Tel. +49(0)30 84417913

Redakteur: Claudia Mallok

ELEKTRONIKPRAXIS Marktreport Bleifrei – April 2005

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