Straffe und organisierte Prozessabläufe

Was Baugruppenproduzenten von der Königsklasse lernen können

Vor dem Hintergrund der kontinuierlich steigenden Kosten, wird ein Elektronikproduzent in Deutschland mit Angeboten fernster Regionen verglichen. Oft verlieren die hiesigen Produzenten den Kampf. Allerdings verliert nur der Hersteller, der nicht den Anspruch der Königsklasse an sich und seine Organisation stellt.

Hubertus Andreae*

In einer Zeit, in der wir mit Billigstangeboten in die Knie gezwungen werden, müssen wir alle Register der Optimierung ziehen. Prozessinnovation, Supply Chain Management, ERP-Systeme, bereichsübergreifende Organisationsmodelle, logistische Konzepte, Personalmanagement und Personalentwicklung sind Methoden und Werkzeuge, die uns gerade in Deutschland eine nachhaltige Überlebenschance bieten. Wie es funktionieren kann, beweist die Königsklasse, die Formel 1. Der Rennfahrer, der Motor, das Fahrgestell, die technisch perfektionierte Karosserie sind wichtig, aber nicht entscheidend für den Sieg. Mindestens genauso wichtig sind die Leistungen drum herum:

  • reibungslose Kommunikation zwischen Fahrer und Box,
  • genaueste Leistungsmessung im Fahrbetrieb auf der Strecke,
  • Übermittlung der Daten an die Box,
  • ausgeklügelte Verarbeitung der Daten und Ableitung von Maßnahmen,
  • Taktik,
  • Abstimmung der Reifen, der Materialien mit den spezifischen Fahrzeuganforderungen,
  • ausgefeiltes Ersatzteilmanagement,
  • Teamqualifikation,
  • Teamzusammenstellung an der Box,
  • genaueste Tätigkeitsabstimmung an der Box,
  • feinste Prozessabstimmung beim Boxengang,
  • absolute Unterordnung des Einzelnen dem Teamgeist und der Teamaufgaben sowie
  • kontinuierliches Lernen und Verbessern (im Training, im Rennen, bei Unfällen, bei Störungen, bei Ausfällen).
  • Die Verhältnisse der Formel 1 übertragen auf einen Baugruppenproduzenten bedeutet:
  • Eine gute Rundenzeit ist die Prozessdurchlaufzeit.
  • Eine gute Teamleistung ist die stark verzahnte Zusammenarbeit unterschiedlicher Fachbereiche miteinander, ein ausgeklügeltes SCM-System.
  • Die Zeit des Boxenstopps ist die Stillstandszeit der Bestücklinien.
  • Kurze Tankzeiten sind optimierte Materialwiederbeschaffungszeiten.
  • Das Datennetzwerk innerhalb des Rennens ist das ausgeklügelte Kennzahlen-, Controlling- und Reporting-Netzwerk.

Einer unserer wenigen großen Standortvorteile, der kurzen Reaktionszeiten, müssen wir mehr als heute optimieren und gegen die fernen Billigstandorte ausspielen.

Kurze Reaktionszeit ist einer der größten Standortvorteile

Wer sich die Prozessketten zwischen Europa und Asien ansieht merkt sofort, wir haben einen Vorteil von mindestens 2 bis 7 Wochen. Es könnte sogar noch mehr sein, wenn die Prozesse entsprechend dem Boxenstopp der Königsklasse organisiert wären.

Die Realität sieht vielfach anders aus:

  • Aufträge werden nicht schnell und sicher verarbeitet – Zeitverlust 1 bis 3 AT,
  • Nettobedarfsrechnungen finden nicht täglich statt – Zeitverlust bis zu 5 AT,
  • Materialbestellprozesse werden nicht täglich vollständig erledigt – Zeitverlust 5 bis 10 AT,
  • Mahnprozesse finden nur gelegentlich statt – Zeitverlust bis zu 5 AT,
  • Wareneingangsprozesse sind zu lang – Zeitverlust 1 bis 3 AT,
  • Auftragsbestätigungen werden auf Wochenbasis abgegeben – Zeitverlust bis zu 5 AT.

Wenn die Königsklasse so arbeiten würde, dann wären die ersten Fahrer bereits im Ziel, bevor die letzten Teams gestartet sind. Dabei liegen genau hier die wertvollsten Wettbewerbsvorteile verborgen. Die Unternehmen in den Billigststandorten schwimmen heute auf der Welle der niedrigen Löhne und haben keinen Druck die Prozesse genauestens unter die Lupe zu nehmen. Das ist die Chance der hiesigen Produzenten. Hier können wir uns einen Vorteil verschaffen, den man nicht so leicht kopieren kann. Denn dazu gehören Prozesse, Menschen und Motivation.

Nutzen wir die Beispiele der Königsklasse, um neue bessere Standards zu entwickeln und um uns kontinuierlich zu verbessern. Beginnen wir uns selber zu treiben, das ist besser als getrieben zu werden. Dann wird der Kunde auch im Preiskampf flexibler sein. Genau diese Chance sollten wir nutzen.

Schwachstellen in Elektronik produzierenden Unternehmen

  • Kernprozesse sind weder dokumentiert noch bereichsüber­greifend abgestimmt. Oft sind abteilungsspezifische Belange zwar berücksichtigt aber die übergeordneten Unternehmensin­teressen wurden vernachlässigt. Auch sind Prozesse und deren Regelkreise vielen Mitarbeitern nicht ausreichend bekannt. So­mit funktioniert das Prozessnetzwerk nicht leistungsstark genug.
  • Das Prozessnetzwerk wird nicht durch geeignete Kennzahlen überwacht. Wir wissen in der Vielzahl aller Vorgänge nicht wo wir stehen.
  • Zeitketten, Aufgaben, Pflichten, Eskalationsprozesse sind nicht geregelt. Das fehlende Wissen von Beteiligten z.B. der Ver­triebsmitarbeiter führt regelmäßig zu Kundenzusagen die vom Unternehmen nicht gehalten werden können.
  • Einige kritische Prozesse sind Arbeitspläne, Arbeitsgänge, Rückterminierungsprozesse, Kapazitätsplanung, Auftrags­bestätigung u.v.m.
  • Qualitätshandbücher sind nicht umfassend im Unternehmen eingegliedert. Sie werden nur genutzt um einem Audit, einer Zertifizierung gerecht zu werden. Die Mitarbeiter kennen es nicht, kennen nicht die Anforderungen, kennen sogar noch nicht einmal den Standort, wo sie einen Einblick nehmen könnten.
  • Mitarbeiter werden weder strukturiert geführt noch strate­gisch weiterentwickelt. Sie erhalten kein Feed-back, keine Ziele und keine spezifisch ausgerichteten Qualifikationsmaßnahmen. Mit unseren Maschinen gehen wir sorgfältiger um!

*Hubertus Andreae optimiert Prozesse in den nicht produzierenden Unternehmensbereichen wie Materialwirtschaft, Vertrieb und Controlling bei OEMs und EMS-Providern und führt zu diesem Thema Seminare veranstaltet vom FED durch.

dreiplus Tel. +49(0)30 84417913

Redakteur: Claudia Mallok

ELEKTRONIKPRAXIS NR. 16 – 19. August 2008

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